Gedichte schreiben in Zeiten der Umbrüche - wie reagieren Lyrikerinnen und Lyriker auf die Transformationsprozesse seit 1990? Das interkulturelle und interdisziplinäre Forschungsprojekt soll neue Perspektiven auf die russische wie die deutsche Gegenwartsliteratur eröffnen, fokussiert auf eine literarische Gattung, die traditionell am ehesten und am sensibelsten seismographische Funktionen des Wandels anzeigt: die Lyrik. Der Band fragt nicht nur nach der Bedeutung der politischen Konstellationen des Umbruchs von Sowjetunion zur russischen Föderation und der Wende in Deutschland für die Lyrik, sondern bezieht weitere Diskurse mit ein, die im transnationalen Kontext die Gegenwart seit 1990 bestimmen: Gibt es in Russland und Deutschland parallele Entwicklungen? Welche Differenzen prägen die Gegenwartslyrik beider Länder? Welche Auswirkung haben die seit 2000 verstärkt einsetzende Globalisierung und Digitalisierung sowie die ökonomisch und politisch bedingten Krisen auf die Lyrik? Haben die politischen sowie medialen und technologischen Umbrüche Bedeutung für die Themenwahl, die kommunikativen und ästhetischen Funktionen, die poetischen Verfahren und Strategien? Können für die letzten 25 Jahre poetische und auch poetologisch reflektierte Veränderungen ausgemacht werden? Die Beiträge des Bandes zeigen, dass die neuere russisch- und deutschsprachige Lyrik eine hochgradige Heterogenität und Ungleichzeitigkeit im Hinblick auf Poetik, Stile und Milieus prägen. Hybridität, Experimente mit Grenzen der Gattungen, Sprachen, Medien oder auch zwischen Soziolekten, Kulturen und sozialen Milieus gehen zusammen mit einem hohen Bewusstsein für die Sprachlichkeit, Diskurszugehörigkeit und Performativität von Lyrik. Politisches Bewusstsein in der Lyrik und Radikalität in Tabubruch und Experimenten mit Genre und Sprache, paradox gepaart mit einem hohen poetischen Traditionsbewusstsein, charakterisieren besonders die russische Lyrik der Gegenwart.